Freitag, 12. April 2013

KAPITEL 1


Es gibt Tage, die fühlen sich irgendwie seltsam an und man weiß nicht warum, bis etwas bedeutendes passiert.
Dann schaust du zurück auf seinen Morgen - denkst an den Kaffee den du auf deine weiße Yamamoto Jacke gekippt hast, den hartnäckigen Knoblauchgeruch im Pausenraum- Kühlschrank, den Lippenstift der auf deinen Zähnen verschmiert war während du mit dem Frühstückskerl geflirtet hast - und es macht alles perfekt Sinn.
Ich hatte einen dieser Tage.


Während der letzten anderthalb Jahre war mein Leben eine ständige Achterbahnfahrt, also bin ich normalerweise auf alles vorbereitet.
Als erste Assistentin von Gabriella Winters, Chefredakteurin beim Porteras Magazin, verbringe ich meine Arbeitszeit mit allem Möglichen, vom Anstarren der männlichen Models eines Calvin Klein Unterwäsche Shootings, bis hin zum Transport eines chronisch verstopften Yorkie zu seiner monatlichen Darmspülung.
So hatte ich mir sicherlich meine Karriere in der Modewelt vorgestellt, aber ich stelle mir gerne vor, daß ich langsam Herr der Lage werde.

An diesem Morgen meldete ich mich um acht Uhr morgens an, so wie immer.
Auf dem Weg zur Arbeit hatte ich Gabriellas Frühstück abgeholt, ein Eiweiß- Omlett und Nova Scotia Lachs von Barney Greengrass - speziell für sie noch vor Geschäftsbeginn gemacht, ausser an Freitagen, wenn sie fastete - und besorgte Kaffee für mich und Penelope, die zweite Assistentin.
Ich kam zurück ins Büro, arrangierte das Frühstück auf Gabriellas bevorzugtem Waterford Porzellan und vor ihrer um 8.15 h erwarteten Ankunft verschickte ich Emails mit ihrem Terminplan für den Tag an alle einbezogenen Büromitarbeiter.
Ich dachte alles wäre in Ordnung bis mir auffiel, daß es bereits 8.12 h war und ich noch keinen Piep von Gabriella gehört hatte.
Das war wirklich seltsam, normalerweise hätte ich um diese Zeit schon einen kessen, an Unverschämtheit grenzenden Anruf von ihr erhalten, in dem sie etwas unmöglich wirkendes von mir verlangt hätte.
Ich ließ mich in meinen Bürostuhl zurücksacken und trank von meinem immernoch kochend heissen Latte, dabei lief mir ein wenig davon über die Lippen und tropfte mir auf die Jacke.
Wenigstens hast du das Dram heute frühzeitig hinter dir! dachte ich mir kopfschüttelnd, während ich an dem Fleck auf meiner Jacke herumtupfte.
Oh, ich wünschte, ich hätte damit recht gehabt.
Als Gabriellas Wagen um halb neun noch nicht da war, machte ich mir langsam Sorgen.
Ich rief auf ihrem Handy an und konnte keine Nachricht hinterlassen, da die Voice- Mail voll war, da bekam ich Panik und rief Jake an, einen der Redakteure auf unserem Stockwerk.
Während es klingelte, sah ich durch die Glastür, konnte jedoch die äusseren Büroräume nicht sehen, sondern nur Ivanka an der Rezeption.
Sie trommelte mit ihren Fingern auf ihrem Schreibtisch herum und warf nervöse Blicke in Richtung der Aufzüge.
Das blendende, fluoreszierende Licht zeigte mir mein Spiegelbild, schwarze Haare, blasse Haut und meine Augen sahen aus wie zwei schwarze Löcher. Gruselig!
„Jake“ meldete er sich am Telefon und erschreckte mich damit. Sein Stimme klang knapp und ich konnte mir die Sorge auf seinem Gesicht vorstellen. Seine großen blauen Augen würden geweitet sein und er würde vielleicht einen tätowierten Ellbogen auf dem Schreibtisch abstützen, eine Hand in seinem sandfarbenen Haar vergraben, während er sich über seinen Laptop beugte.
„Weißt Du, was heute morgen los ist?“ fragte ich, mich erhebend um zu Gabriellas glänzend lackiertem Schreibtisch zu schlendern.
Da war ein Fingerabdruck neben der Lederkladde und ich wischte ihn mit meinem Ärmel weg. „Alle benehmen sich heute so seltsam.
„Es sieht nicht gut aus, Sophie. Wir warten immernoch auf die Bestätigung von Bob, aber es sieht so aus, als ob Gabriella draussen ist.“
„Wo, draussen?“ Ich träufelte mir Desinfektionsmittel in die Hand. Sobald es eingezogen war, hielt ich meine Hand über das schnell abkühlende Omlett, um die die Temperatur zu checken. Gabriella hasste Mikrowellen- aufgewärmtes Essen fast so sehr wie sie Keime hasste.
„Draussen, wie in gefeuert.“
Das ist noch zu retten. Ich rufe bei Barney Greengrass an und bitte sie das Omelett neu zu machen. Penelope kann es auf ihrem Weg abholen, wenn ich sie jetzt noch erreiche...
Eine Schallplatte kratzte irgendwo in meinem Gehirn und brachte mich zurück zu dem was Jake grade gesagt hatte. „Was?“
Jake hatte meine ungläubigen Ton nicht gehört. „Ich kenne die Details noch nicht. Aber ich denke man kann mit Sicherheit sagen, daß Gabriella nicht zurückkommen wird.“
Er stoppte und ich konnte seine Irritation in seinem lauten Seufzen hören, nicht mit mir, sondern mit allem an diesem Tag.
Nachdem mir aufgelegt hatten wanderte ich ein wenig durchs Büro.
Gabriella war... gefeuert?
Hieß das, daß ich auch gefeuert war? Sollte ich schonmal anfangen mir einen neuen Job zu suchen?

Ich saß auf dem Boden neben Gabriellas Schreibtisch und langte nach oben, nach dem Teller. Ich starrte trostlos auf die Welle des Florteppichs und aß den teuren, importierten Lachs den meine Chefin heute morgen nicht geniessen würde. Oh Scheisse, ich habe dafür mit meiner eigenen Kreditkarte bezahlt. Die werden mir das doch zurückzahlen, richtig? Ich wusste doch nicht, daß sie gefeuert ist.
Im Geiste zählte ich alles zusammen, was ich mir diesen Monat noch nicht hatte zurückzahlen lassen. 
Der einzige Grund, daß Gabriella gefeuert werden konnte war, wenn das Magazin abgesetzt werden müsste, also würden sie mich noch bezahlen können? Auf keinen Fall konnte Porteras ohne sie weitermachen. 
Sie war wie die einzige tragende Wand in einem schlecht gebauten Gebäude oder so ähnlich.
Ich hörte auf zu kauen bei diesem Gedanken, ich hatte Porteras noch nie zuvor in einem schlechten Licht gesehen.
Aber Gabriella war wirklich der Kleber gewesen, der hier alles zusammenhielt.
Sie war in den 16 Jahren in denen sie hier geleitet hatte nur zwei Tage krank gewesen und diese Tage waren Legende.
„Der Tag von Lady Di‘s Beerdigung, an dem Gabriella nicht arbeiten konnte...“ flüsterten die Leute mit einem Hauch von Manie in ihrem Blick.
Wenn Gabriella einen ungeplanten freien Tag hatte, stürzte dies das ganze Büro offensichtlich in einen fast kannibalistischen Wahnsinn.
Auf keinen Fall würde ich heute das Büro verlassen.
Mein Handy klingelte.
„Sophie, was zur Hölle ist denn da oben los?“ 
Es war Holli. Oh danke, Herr. Ich presste das Telefon an mein Ohr und versuchte dabei das Omlett nicht auf den Boden fallen zu lassen. „Ich habe keine Ahnung. Gabriella ist nicht da.“
Ich hörte im Hintergrund die lauten Geräuschen der Lobby und schloß daraus, daß Holli auf dem Weg ins Gebäude war. „Ist das Fotoshooting abgesagt? Ich habe gerade jemanden weinend einen Drucker raustragen sehen.“
„Ich weiß es nicht.“ Holli ist meine Mitbewohnerin. Ausserdem ist sie ein Model und sollte heute im siebten Stockwerk ein Frühlingsjacken Shooting haben sollen.
Würde Porteras im Frühling immernoch gedruckt werden?
„Also, wenn das Shooting abgesagt wurde, gehe ich nach Hause. Ich habe noch Stunden von Real Housewives aufgezeichnet, die ich noch sehen will.“ Holli klang gelangweilt von der Idee, daß das Top Modemagazin des Landes abstürzen könnte.
Vielleicht weil - egal was passieren würde - es ihr gut gehen würde.
Was ihren Job anging, war Holli nicht eingebildet. Sie würde genauso gerne Werbung für Reinigungsprodukte machen wie High- Fashion Shoots.
Ihre desinteressierte Haltung was ihren Job betraf, half mir oft die Perspektive für meinen eigenen Job im Auge zu behalten.
Aber gerade in diesem Moment wollte ich keine Perspektive, ich wollte mit brennenden Haaren schreiend herumrennen, wie alle anderen auch.
„Nein, ich bin sicher der Fototermin steht noch..“ Vielleicht. Vielleicht auch nicht. „Geh da hoch und kuck was die sagen. Ich will nicht, das Du Ärger mit Deiner Agentur kriegst.“
„Mach ich, Chef.“ zwitscherte sie und schnappte dann plötzlich nach Luft, wie ein empörtes Fräulein in einem Jane Austen Film. „OH MEIN GOTT! Was, wenn sie dir Gabriellas Job gäben? Weil, Du bist doch ihre rechte Hand?“
„Ich bin nicht ihre rechte Hand. Ich bin ihre Assistentin. Und solche Sachen passieren nur in Filmen.“ Aber das ließ mich mit einer sehr guten Frage zurück. Wer würde die neuen Gabriella werden?

Die Türen zur Rezeption öffneten sich und männliche Stimmen drangen herein. Ich wechselte das Handy von einer Hand zur anderen und balancierte den Teller auf einem Arm, während ich mit durch das lange Sitzen ungeschickten und kribbelnden Beinen aufstand. „Holli. Ich muss auflegen.“
Den Anruf beendete ich ohne auf eine Antwort zu warten. Ich ließ das Telefon auf den Schreibtisch fallen und platzierte den Teller so wie er vorher gestanden hatte, gerade als gedämpfte Schritte den Raum betraten.
Ich strich meinen Rock glatt und sah auf, wobei ich versuchte eine selbstbewusste Ausstrahlung zu projezieren. Aber alle Bemühungen brachen in sich zusammen, als ich den Mann sah, der als Erster zur Tür hereinkam.
Nicht er.
Nein.
Ich kannte ihn. Oder, kannte ihn nicht. Mein Puls erstickte jedes andere Geräusch als ich ihn so betrachtete. Ein Hai- grauer, glänzender Anzug, keine Krawatte, den Kragen geöffnet... so anders als das lässige Outfit das wir sechs Jahre zuvor auf dem ganzen Boden des Hotelzimmers verteilt hatten.
Meine Kehle war so trocken, als ob sie sich selbst verschließen wollte. Das war vielleicht ganz gut so, denn so konnte ich nicht Eier und Lachs über seine schwarzen teure Lederschuhe erbrechen.
„Sind sie...“ Ich sah seine perfekten Lippen die Worte formen. Erkennen flackerte über sein Gesicht und er strich sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn.
Ich wappnete mich für seine nächsten Worte: „Gabriellas Assistentin?“
Wut und Kränkung fochten darüber, wer mir das Blut ins Gesicht trieb. Ich versuchte meine Gesichtsfarbe unter Kontrolle zu halten und nickte: „Eh, ja das bin ich.“
Er streckte mir seine Hand entgegen „Ich bin Neil Elwood, von Elwood und Stern.“
Ich wollte ich anfauchen: „Ja, das weiß ich. Wir haben miteinander geschlafen!“ Aber natürlich würde ich nichts dieser Art sagen. Nicht wenn er sich nicht an mich erinnerte. 
Ausserdem wusste ich technisch gesehen nicht, wer er war. Als wir die Nacht zusammen verbracht hatten, hatte er sich als Leif vorgestellt und gesagt, er schriebe für ein Automagazin.
Offensichtlich hatte er sich versprochen. Denn Neil Elwood schrieb nicht für ein Automagazin. 
Neil Elwood besaß Magazine.
„Pech.“ sagte er in entschuldigendem Ton. Es klang in seinem britischen Akzent sehr viel höflicher, als wenn es ein Kerl aus New Jersey gesagt hätte. Pech nannte er es, daß ich meine Arbeit verlieren würde. Seine Stimme hatte an dem Tag an dem wir uns trafen meine Aufmerksamkeit erregt und sie brachte mich jetzt auf verruchte Gedanken.
Ich schüttelte ihm die Hand und versuchte die Funken des Vertrauten zu ignorieren, die meinen Arm entlang reisten und jedes Genusszentrum meines Hirns befeuerten. 
Diese Hand kannte ich. Beide Hände.
Jedes Detail dieser Hände und was er damit getan hatte, hatte ich in meiner Erinnerung gespeichert. 
Mit zusammengebissenen Zähnen lächelte ich ihn an: „Sie sagen es!“
„Sehen sie, ich möchte nicht das sie in Panik geraten.“ Ich glaube das war es, was er sagte.
Meine Konzentration hatte eine traumartige Qualität um den Rand herum, mit winzig kleinen schwarzen Punkten dunkelster Wut. Das machte es schwer, sich zu konzentrieren.
Ich kann es nicht glauben, daß er sich nicht an mich erinnert.
Ich kann nicht glauben, daß ich meinen Job verlieren werde.
„Könnten sie in der Zwischenzeit noch hier bleiben, nur für ein paar Wochen? Sie könnten ihren Ersatz anlernen und wir könnten ihnen einen anderen Job hier suchen, etwas das besser zu ihnen passt.“ 
Ich lächelte mit einer wirklich guten Imitation eines Menschen mit funktionierendem Gehirn und antwortete: „Natürlich bleibe ich gerne, bis sie jemand anderen gefunden haben.“
Selbstverständlich würde ich auch gerne weiterhin meine Hälfte der Miete zahlen, was schwer werden würde wenn ich arbeitslos würde.
Und trotzdem konnte ich nicht glauben, wie cool ich in Bezug auf all das war.
Dann realisierte ich, das die alles mich noch richtig umhauen würde.
Mein Job war vorbei, weg. Meine Chefin war gefeuert. Ich war vielleicht verdorben und würde dies im Gesicht jeder Person sehen, mit der ich in den nächsten fünf Jahren Vorstellungsgespräche führen würde.
Genausogut könnte ich zurück nach Michigan ziehen und dort im Shop N‘ Save arbeiten.
In Gedanken band ich mir schon eine dieser fürchterlichen Polyesterschürzen um, als mir klar wurde das vielleicht noch nicht alles verloren war.
„Sehr gut. Um neun Uhr haben wir ein Meeting mit allen Redakteuren, also in etwa...“ Neil oder Leif oder wen auch immer er heute vorgab zu sein sah auf seine Armbanduhr die so ungefähr die Größe eines verdammten Brottellers hatte. „... zehn Minuten. Also, ich brauche sie dabei nicht unbedingt, aber ich bräuchte Kaffee und etwas zu essen. Könnten sie das für mich besorgen und gegen zehn Uhr zur Büroumfassenden Ankündigung wieder da sein?“
„Um zehn Uhr?“ Er wollte es nicht am besten vor 15 Minuten? Würde er nicht mit seinen Fingern nach mir schnippen?
„Reicht die Zeit dafür nicht aus?“ Er zog eine Augenbrau hoch und ich wurde schmerzhaft in diese Nacht in Los Angeles vor sechs Jahren zurückversetzt. Sogar die Art wie er seine Braue anhob war in meiner Erinnerung verwurzelt und er wusste nicht einmal, wer ich war. Nur eine weitere in einer langen Reihe von Flughafenerorberungen, vermutete ich.
„Nein, das ist mehr als genug Zeit.“ Sehr viel mehr als Gabriella mir gegeben hätte. „Was hätten sie gerne?“ 
Mir viel eine subtile Veränderung im Raum. Einer der Männer die mit Neil hereingekommen waren - ich hatte sie zuvor nicht beachtet, da mir keiner eine Oh- Gott- wir- haben- es- miteinander- getrieben- Panik verpasst hatte - hüstelte in seine Hand und einer anderer rollte ganz offen mit den Augen.
Neil für seinen teil reagierte garnicht darauf und winkte mich mit „Bagels wären ok, besorgen sie genug für uns alle.“ davon.
„Kaffee?“ fragte ich und kalkulierte im Stillen, ob ich dafür ein Taxi brauchen würde oder ob ich zu Fuß gehen könnte.
„Gibts hier keine Kaffeemaschinen?“ fragte der Augenroller mit einem ungeduldigen Zischen. Ich widerstand dem Drang, meine Augen zu wütenden Schlitzen zusammenzupressen. 
„Natürlich haben wir welche.“ Hoffentlich klang ich fröhlich und hilfsbereit. „Bevorzugen sie bolivianischen, kolumbischen oder wir hätten auch eine fantastische dunkle Röstung aus Chile hier, die letzten Monat...“
Neil trat einen Schritt auf mich zu, wobei seine Hände seine Jacke nach hinten schoben, als er sie in die Hosentasche steckte. „Mir ist klar, das Gabriella sehr bestimmt war, was die Dinge hier angeht. Ich sage nicht, das ich nicht bestimmt sein werde, was ihre Arbeit angeht, denn das werde ich sein. Aber ich werde sie sicher nicht feuern, weil sie mir vielleicht den falschen Kaffee bringen.“
„In Ordnung. Kaffee und Bagels.“ Ich war mir ziemlich sicher, daß mein eingefrorenes Lächeln irreparabeln Schaden an meinen Gesichtsmuskeln verursacht hatte. Als ich endlich aus dem Büro heraus war, rieb ich mir meine schmerzenden Wangen.

Es mag seltsam klingen, sich über einen Chef zu beschweren, der nicht wählerisch ist. Aber wenn man jemandes Assistentin ist, hilft wirklich wenn diese Person nicht pflegeleicht ist.
Kaffee und Bagels? Welche Art Kaffee? Mit Milch? Zucker? Tasse oder Wegwerfbecher? Falls Wegwerfbecher, sollte er aus 100% wiederverwertetem Material bestehen? Mein Job war so viel leichter gewesen mit Gabriellas sehr speziellen Ansprüchen. Ohne diese musste ich eigenständige Entscheidungen treffen, was gegen alle meine Untergebenen- Instinkte ging.
Ok, ich würde nicht für immer eine Untergebene sein. Eines Tages würde ich zu einer Tätigkeit befördert werden, die ich wirklich mochte und vielleicht sogar selbst eine Assistentin haben. Aber so ist nunmal die Nahrungskette der Arbeitswelt. Du bringst jemandem seine lächerliche Kaffeebestellung, bis du eines Tages selbst jemanden herumscheuchen kannst, um deine lächerliche Kaffebestellung zu erfüllen. Das ist wie der König der Löwen, nur ohne Tierhaare auf allem.

Er wollte also Bagels. Ich würde ihm seine Bagels besorgen. Und ich hoffte er würde daran ersticken.
Ich betrat den siebten Stock und war nicht überrascht, alles dunkel und leer vorzufinden.
Das bedeutete, das Shooting war abgesagt worden und Holli vermutlich nach Hause gegangen. 
Ich trat zurück in den Aufzug und fuhr hinunter in die Lobby.
Sobald sich die Türen öffneten, erblickte ich Holli. Sie ist nie schwer zu entdecken. Eine 1,78 m große, prachtvolle, natürliche Blondine und sie trug die schäbigsten gerade- aus- dem- Bett-gestiegen- Klamotten, die wohl jemals die Lobby meines hochgeschätzten Arbeitsplatzes beehrt hatten. Sie stand an der Rezeption und starrte finster auf das iPhone in ihrer Hand.
„Holli!“ Ich rannte zu ihr, doch erinnerte mich daran, das ich hier arbeitete und verlangsamte meine Schritte. 
Gabriella mochte hier draussen sein, doch ich war immernoch ihre Assistentin und ich durfte den Leuten hier nicht den Eindruck geben, daß es Zeit für Panik wäre. 
Holli runzelte die Stirn: „Du hast dich da bekleckert.“
Ich strich über meine Jacke. „Es gibt viel größere Probleme. Ich muss wirklich mit dir reden. Jetzt!“
Holli folgte mir aus dem Gebäude auf die Strasse. Wir liefen den Block hinunter zu einem kleine Cafe, den die meisten Mitarbeiter von Porteras niemals betreten würden, da die Getränke hier nicht teuer genug waren.
Dort rutschten wir in eine kleine Sitznische mit hohen Rückenlehnen.
„Also, was zur Hölle ist da oben los?“ fragte Holli halbflüsternd, während sie die Speisekarte studierte. „Gestern hieß es, komm keine Sekunde zu spät oder du wirst bestraft. Dann komm ich heute an und es ist alles abgesagt. Kein Anruf bei meiner Agentur oder sonst etwas.“
„Gabriella wurde gefeuert.“ Was zu Anfang wie wichtigste Detail der Situation ausgesehen hatte, verblasste zu etwas bedeutungslosem im Angesicht meiner Demütigung. „Etwas... schlimmeres ist passiert.“
Ich holte tief Luft, bereit meiner besten Freundin alle schmutzigen und sehr persönlichen Details zu erzählen, aber in diesem Moment kam die Kellnerin um unsere Bestellung aufzunehmen.
Mit kaum verhohlener Ungeduld wartete ich, während Holli das Holzfällerfrühstück und Pancakes bestellte. Das Einzige an das ich denken konnte war der schnell hart werdende Lachs auf Gabriellas Schreibtisch. Ich bestellte mir nur einen Kaffee.
„Erinnerst du dich an den Kerl von dem ich dir erzählt hatte? Der den ich auf dem Weg zur NYU traf?“ Ich wartete auf den Schimmer der Erinnerung in ihrem Gesicht. Ihre großen Augen wurden noch größer. Hollis Gesicht besteht zu ungefähr 95 Prozent aus Augen. 
„Du meinst den...“ Sie hielt ihre Handflächen etwa 25 cm voneinander entfernt.
Ich nickte armselig. „Nun, er ist Gabriellas Nachfolger. Er ist Neil Elwood.“
„Neil Elwood, wie in Men‘s Style Quarterly? Wie in, Who Magazine? Dieser Neil Elwood?“ Hollis Stimme wurde beim Auflisten der Elwood und Stern Publikationen immer lauter. „Oh mein Gott, Sophie! Du hast mit Neil Elwood geschlafen?“
„Ich wusste damals nicht, daß er Neil Elwood ist!“ mit flatternden Händen versuchte ich sie zum Schweigen zu bringen.
Bevor ich mich ernsthaft mit Modejournalismus beschäftigt hatte, hatte ich nichts von einem Neil Elwood oder seiner blöden Firma gewusst. Und ja, ich schätze, mir war auf den Bildern von ihm schon eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Kerl mit dem ich vor sechs Jahren geschlafen hatte aufgefallen. Aber ich hatte mich selbst überzeugt, daß die beiden sich garnicht sooo sehr glichen. 
„Sei leise! Das ist noch nicht das schlimmste, okay? Das schlimmste ist das er sich nicht mal an mich erinnert.“
Die Kellnerin brachte unsere Getränke, Holli spielte mit dem Einpackpapier ihres Strohhalms und beugte sich zu mir. „Wie kann er dich vergessen haben? Ich dachte, es wäre deine allerheisseste Nacht gewesen?“
„Das war sie.“ Oder etwa nicht? Sechs Jahre später und ich dachte immernoch an ihn, wenn ich nette Stunden mit meinem Vibrator verbrachte. Aber ich hatte in der Zwischenzeit auch die schmerzhafte Wahrheit erkannt, das zwei Menschen miteinander Sex haben konnten und es trotzdem für beide eine sehr unterschiedliche Erfahrung sein konnte.
„Naja, ich dachte er wäre ein Idiot gewesen.“ Holli nippte ihre Cola. „Immerhin hat er dein Flugticket gestohlen, Sophie.“
Das... war die Wahrheit. Und ich übersah oft diesen wichtigen Punkt, aber nicht weil heisser Sex Diebstahl entschuldigte, sondern weil es das Beste gewesen war, was mir hätte passieren können.
Auf eine gewisse Art dachte ich, das ich ihm danken sollte.
„Wenn er das Ticket nicht gestohlen hätte, wäre ich nie zur NYU gegangen. Ich hätte dich nicht getroffen. Wir würden nicht dieses fantastische Leben führen.“
„Also ich würde nicht so über das fantastische Leben quatschen, wenn meine Chefin grade gefeuert worden wäre.“ merkte Holli an. „Was wirst du tun?“
Das war die 1 Million Dollar Frage, nicht wahr? Ich trank kleine Schlückchen von meinem Kaffee - der etwas schmierig glänzte - und zog eine Grimasse.
Es gab nicht wirklich eine Hilfstanten Kolumne für diese Scheisse.
Ich konnte meine Tasse nicht austrinken. Nicht mal still sitzen konnte ich. „Ich muss jetzt los, Holli. Bist du heute abend zuhause?“
Sie nickte. „Ja, den ganzen Abend. Mach dich nicht verrückt, okay?“
Das konnte ich nicht versprechen und Holli wusste das auch. Wir verabschiedeten uns und ich machte mich auf den Weg. Draussen schien die Sonne und der Himmel war blau. Ein wunderschöner Oktobertag in Manhattan. Ich hasste es, wenn das Wetter nicht meiner Laune entsprach.
Während ich in der Schlange eines No- Name- Deli wartete, um die Bagels zu kaufen, drifteten meine Gedanken ab zu der Nacht vor sechs Jahren.
Ich traf Neil - oder Leif - als ich auf meinen Flug von Los Angeles nach Tokio wartete. Eigentlich sollte ich in einem Flugzeug auf dem Weg nach New York sein, um dort mit meiner College Ausbildung zu beginnen. Aber im letzten Moment bekam ich Schiss und buchte einen Flug nach Japan mit meiner Kreditkarte, die nur für Notfälle bestimmt war. 
Er war damals 42, unglaublich alt, verglichen mit den naiven Vorstellungen einer 18 jährigen. Aber er hatte die beiden Dinge, die ich am meisten an einem Mann schätzte. Er war älter als ich und er hatte einen britischen Akzent. 
Als unsere Flüge gecancelt wurden, verbrachten wir die Nacht zusammen und taten Dinge, von denen ich zuvor nur im Internet gelesen hatte. 
Am nächsten Morgen wachte ich auf und er war weg. Mein Flugticket hatte er mitgenommen und mir dafür viertausend Dollar und eine kleine Notiz hinterlassen. In dieser Notiz gab er mir den Rat, doch lieber nach New York zu fliegen und mein Studium zu beginnen.
Ich war damals ausser mir und auch jetzt noch, so viele Jahre später, war ich ziemlich angefressen deswegen.
Er hatte kein Recht gehabt den Verlauf meines Lebens derartig zu ändern, er kannte mich ja nicht wirklich. Aber wenn er es nicht getan hätte, wäre ich heute nicht wo ich war.
Die Erkenntnisse machte mich wieder wütend. 
Und der Punkt an dem ich nun war, war das ich demnächst arbeitslos wäre und im Moment für einen Mann arbeitete, der mich einst gefickt hatte und sich heute nicht mehr daran erinnern konnte.
An einem einzigen Morgen hatte sich alles von großartig zu entsetzlich entwickelt.
Im Auzug zurück nach oben, traf ich die Entscheidung über diese nacht nicht weiter nachzudenken. Ganz offensichtlich hatte Neil das nicht getan, also warum sollte ich?
Ich würde mich nicht mehr an seine Stimme erinnern, leise und nah an meinem Ohr, die mir all die Sachen sagte, die er mit mir tun wollte. Ich würde mich nicht an seine Hände auf mir erinnern oder das Gefühl seiner nackten Haut. Ich würde mich nicht an meine auf den Rücken gebundenen Hände erinnern oder die die Eiswürfel an meiner - 
Ebenso gut hätte ich die Bagels in den Müll werfen können und zum Arbeitsamt gehen können, wenn dies meine Strategie sein sollte. Nie im Leben würde ich irgendetwas davon vergessen, besonders nicht, wenn ich jeden tag mit ihm arbeiten musste.
Jeden Tag, bis ich meine Nachfolgerin angelernt hatte, erinnerte ich mich selbst als ich die Türen zu Gabriellas früherem Büro aufstieß.
Penelope war immernoch nicht da. Hatte ihr jemand einen Tip gegeben? Hatte Gabriella ihr einen Tip gegeben? Warum sollte sie dann nicht mich angerufen haben?
Ich klopfte an der halboffenen Tür zu Neils Büro. Er hing am Telefon und sprach selbstbewusst über die Mai Ausgabe. Ich fragte mich, ob ich dann noch da sein würde oder ob ich diese Ausgabe nur am Zeitungsstand sehen würde, weinend vor der Schachtel sitzend in der ich leben würde.
Neil sah auf und winkte mir herein. Der Augenroller ging gerade eine Reihe von Miniröcken durch, hier und da zog er einen heraus und schmiss ihn auf den Boden. Er schaute mich mit geschürzten Lippen an.
Oh, wir würden dann wohl das schöne Spiel „Ich kenne dich nicht, aber ich ich hasse dich schon jetzt.“ spielen?
Das war in Ordnung für mich. Ich war nicht mit jedem im Büro beste Freunde und ich würde auch jetzt ganz sicher nicht damit anfangen. 
Ich hob mein Kinn ein wenig an und setzte dann die Tüte mit den Bagels ordentlich auf dem Schreibtisch ab. 
Neil verdeckte die Sprechmuschel des Telefons „Vielen Dank, Sophie.“
Ich nickte und trat zurück, bevor ich mich umdrehte und den Raum verließ. Den Augenroller sah ich mißbilligend an, er gab vor mich nicht im Auge zu behalten. Dann fiel mir plötzlich ein, wo ich ihn zuvor gesehen hatte. In der Vanity Fair, immer auf irgendeiner Party in den Hamptons oder in einem trendigen TriBeCa Loft. Er war Rudy Ainsworth, Kostümdesigner für die Metropolitan Oper und diverse andere Firmen. Also warum ging er hier eine Reihe von Michael Kors Miniröcken durch?
Dieses Geheimnis beschäftigte mich für ungefähr 30 Sekunden, bevor ich die Tür zu Neils Büro hinter mir zuzog. Plötzlich traf es mich wie ein Blitzschlag. Neil hatte „Vielen Dank, Sophie.“ gesagt.
Und ich hatte ihm nicht meinen Namen gesagt.

2 Kommentare:

  1. Huh, habe ich jetzt grad erst gesehen, dass es auch eine deutsche Version gibt (geben wird).
    Ich werde warscheinlich eher bei er englischen bleiben, aber gut zu wissen.
    Gibt es einen bestimmten Grund weshalb du beim "dass" (unter anderem) die alte Rechtschreibung anwendest? Habe ich schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Auch so ein paar Typos, aber liest sich grundsätzlich ganz gut.

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    1. Hallo!
      Leider vergesse ich immer wieder die neue Rechtschreibung, da die neue erst etliche Jahre nach meinem Schukabschluss eingeführt wurde.
      Das zweite Kapitel werde ich lieber noch ein drittes Mal auf Fehler checken.
      Vielen Dank für Deinen Kommentar und ein schönes Wochenende!

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