Freitag, 26. April 2013

KAPITEL 3


Am nächsten Morgen zwang ich mich aufzustehen und versprach mir selbst, egal wie der heutige Tag laufen würde, ich würde aus keiner Höhe von mehr als 60 cm springen.
Ich zog mich an, als ob ich in eine Schlacht ziehen würde. Schwarze, hochtaillierte Hosen mit weiten Beinen und eine strukturierte, rostfarbene Jacke über einer weißen Bluse.


Dann legte ich Armreifen aus dunklem Holz an und meine Augenlider schminkte ich mit Schattierungen von angeschlagenem Silber. Die Konturen, oh Gott, die Konturen. Ich trug mein braunes Haar in achtlosen Wellen - die Art von achtlos wofür man anderthalb Stunden brauchte. Und als ich in einer Wolke aus parfümierter Bodylotion ins Wohnzimmer schritt, ließ Holli vor Erstaunen die Gallone Eiskrem fallen, die sie gerade als Frühstück aß.
„Heilige Mutter der Wangenknochen.“ murmelte sie und leckte ihren Löffel sauber. „Du gehst in diesem Aufzug zur Arbeit?“
„Pff“ ich wickelte mir einen Kaschmirschal um den Hals. „Ich werde in diesem Aufzug Verbindungen knüpfen gehen. Ich schätze, gegen 9.30 Uhr bin ich gefeuert, dann kann ich wenigstens noch einige Bewerbungen abgeben.“
„Du nimmst das alles ziemlich gut auf.“ Holli hob ihren Eimer Eiskrem auf. „Sollte ich auf den unausweichlichen Fallout vorbereitet sein?“
„Es wird keinen Fallout geben.“ erklärte ich resolut. Und ich meinte es auch so. Ich hatte das Rumjammern hinter mir. Anstatt mich zum Opfer unveränderbarer Umstände zu machen, würde ich die Dinge in die Hand nehmen, die ich kontrollieren konnte.
Ich würde meinen momentanen Job würdevoll und professionell beenden und versuchen so schnell wie möglich einen neuen zu finden.
„Mmhm.“ Holli nickte und schlurfte zur Couch. „Aber vergiss nicht, Mr. Cheeba und ich werden genau hier warten, falls du es dir anders überlegst.“
Ich beeilte mich aus der Tür zu kommen, bevor Holli den Joint anzündete. Morgens um sieben wollte ich nicht nach Gras stinken.
Meinen Kaffee und mein Frühstück holte ich in meinem üblichen Laden. Es dauerte nicht solange wie sonst, was ich zu schätzen wusste. Das letzte was ich wollte war zu meiner Kündigung zu spät zu kommen. Ich schaffte es auch, eine frühere Bahn als sonst zu nehmen. Wenigstens etwas das heute glatt lief.
Die Lobby war noch relativ leer, als ich durch die Drehtür trat und dem Sicherheitsmann meinen Mitarbeiterausweis zeigte.
Ich konnte den Aufzug ohne Wartezeit besteigen - was fast episch war - und als ich oben ankam, stellte ich fest, dass ich sogar vor unserer Rezeptionistin Invanka angekommen war.
Niemand kam jemals vor Ivanka hier an. Ich vermutete, dass sie unter ihrem Schreibtisch wohnte.
Ich betätigte die ,Stechuhr‘ von meinem PC aus und begann mit der unlustigen Arbeit, meine persönlichen Daten auf meine eigene externe Festplatte zu übertragen. Ausserdem löschte ich meinen Internetverlauf und meine Kontaktliste. Dem neuen Regime würde ich nicht ein Fetzen von Hilfe hinterlassen.
Um viertel nach acht checkte ich mein Handy. Keine Nachricht von Neil. Meine Güte, er war wirklich kein bisschen wie Gabriella. Bei ihr wäre jetzt schon der Himmel eingestürzt und die Krisen würden nur so auf uns niederfallen.
Wer auch immer gestern für mich übernommen hatte, hatte mir Neils Terminplan für die ganze Woche gemailt, sowie eine Liste von Dingen, die heute morgen erledigt werden mussten.
Das überraschte mich, da ich geplant hatte, heute entlassen zu werden und mir ausgerechnet hatte, das er dasselbe geplant hatte.
Da hatte sicher jemand was übersehen.
Eine der Doppelglastüren wurde aufgestossen und Neil kam herein, in einem langen schwarzen Wollmantel, den er ablegte sobald er drinnen war.
Ich sprang auf, um ihn von ihm entgegen zu nehmen, einfach aus Gewohnheit. Jahrelang hatte ich die Mäntel der Besucher aufgehängt und es hätte sich unnatürlich angefühlt, jetzt nicht seinen aufzuhängen.
„Guten Morgen, Sophie.“ Er klang einstudiert ruhig, das absolute Gegenteil zu der unbehaglichen Art, wie er versuchte Augenkontakt zu halten und es nicht schaffte.
„Guten Morgen.“ antwortete ich und hielt meine Augen auf ihn gerichtet, wobei ich einen gemeinen kleinen Kitzel der Befriedigung empfand. 
Oh ja genau. Ich weigere mich die Verlegenheit dieses Moments anzuerkennen. Was willst du dagegen tun? 
„Kaffee, schwarz, zwei Zucker?“
„Ja, danke.“ Er erholte sich beeindruckend, übernahm meine Strategie: Leugnen. „Und würden sie den Thermostat bitte auf 18 Grad einstellen? Es ist etwas warm hier.“
„Aber sicher.“ ich lächelte mit geschlossenen Lippen mein leichtestes Arbeitslächeln, während in meinem Kopf die ganze Zeit der Singsang schallte Ich habe dich nackt gesehen, ich hab dich nackt gesehen. 
Er ging in Richtung seines Büros und ich öffnete den Mantelschrank und nahm einen glänzenden Holzkleiderbügel heraus.
„Sophie.“
Ich hielt inne und drehte mich um. Er stand vor seiner Tür, beobachtete mich. Unseren kleinen Standoff hatte ich gewonnen. Jetzt würde er zur Sprache bringen, was gestern geschehen war. Ich schätze, ich hätte mich an meinem kleinen Sieg erfreuen können, aber stattdessen fühlte ich mich nur sehr schwach im Magen.
Sein Ausdruck war eine Entschuldigung, geschrieben in menschlichen Gesichtszügen.
Etwas passierte zwischen uns, eine Energie so gewichtig und bedeutungsvoll dass es die Luft schwer machte.
Mein Körper kam ohne mein Zutun zum völligen Stillstand, aber ich war nicht angespannt. 
Ganz plötzlich waren wir wieder die beiden Liebhaber in diesem Hotelzimmer und die ganzen zwischenzeitlichen Ereignisse waren verschwunden.
Und in diesem Moment perfekten Vertrauens, als wir die schwierige Geschichte zwischen uns hätten ansprechen können, schritt Rudy Ainsworth durch die Tür und lud selbstbewusst seinen Mantel auf meinem Schreibtisch ab. „Morgen, Neil. Bereit dieses Magazin zu retten?“
Bevor ich weitererzähle, sollte ich ihnen wirklich Rudy Ainsworth erklären. Er war die Sorte von Mensch die - durch nichts aussergewöhnliches in seiner Erscheinung, Benehmen oder Bekleidung - alle Aufmerksamkeit auf sich zog sobald er einen Raum betrat.
Rudy war klein, ein bisschen rundlich und hatte wunderschöne dunkle Haut. Aber er sah nicht supergut aus, nur durchschnittlich. Er trug Tweedblazer und Schottenmuster- Hemden mit Fliegen ohne damit wie ein Hipster oder ein Nerd auszusehen, auch nicht mit der Lesebrille mit dem dicken schwarzen Rahmen, die er manchmal trug.
Er sah völlig schlicht aus, aber er strahlte etwas aus, das jeden anzuziehen schien wie einen Magneten.
Heute morgen war dieser magnetische Effekt etwas vermindert, durch die Spannung zwischen Neil und mir. Und wir realisierten beide, dass auch Rudy es bemerkt hatte.
Rudy schaute interessiert zwischen mir und Neil hin und her und ich beeilte mich, die Mäntel aufzuhängen.
„Haben sie ihren freien Tag genossen, Miss Sophie?“ Rudy hatte eine sanfte Stimme und einen leichten, gewöhnlichen Südstaatenakzent, von dem ich mir zu 70 Prozent sicher war, das er aufgesetzt war. 
Es war offensichtlich, dass diese Frage eine Ermahnung war und das von mir erwartet wurde, die richtige Antwort darauf zu finden.
„Ja, danke der Nachrage.“ Ich würde keine Entschuldigung für meine Abwesenheit suchen. Rudy Ainsworth konnte über mich denken, was er wollte und es würde meine Gefühle nicht verletzen. Ich war sowieso darauf vorbereitet, heute entlassen zu werden.
„Ich bin froh, daß du da bist.“ erzählte Neil Rudy. „Kannst du reinkommen und dir das Budget für die Handtaschen Ausgabe ansehen?“
Ich war sofort vergessen und in dem Moment als sich die Tür hinter ihnen schloß, ließ ich mich in meinen Stuhl fallen.
Mir war fast schwindelig von dem was auch immer da gerade zwischen mir und Neil vorgegangen war, ebenso von der Erleichterung vor dem potenziellen Labyrinth einer passiv- aggressiven Unterhaltung mit Rudy gerettet worden zu sein.
Rudy war die letzte meiner Sorgen. Meine Emotionen spielten verrückt, während ich versuchte unsere Fast- Konfrontation aus jedem möglichen Blickwinkel zu sehen. 
Hatte Neil dasselbe wie ich gefühlt? Es hatte in diesem Moment so offensichtlich gewirkt. 
Würde er mich trotzdem entlassen? Hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Die ersten 45 Minuten meines Arbeitstages funktionierte ich auf Autopilot, beantwortete Anrufe, fiel zurück in meine angenehme Routine von vor einigen Tagen zuvor. 
Ich hatte gedacht, daß ohne Gabriella alles auseinanderfallen würde, aber alles schien so schockierend normal.
Vielleicht könnte ich sogar weiter hier arbeiten.
Ich könnte vielleicht eine Position in der Firma bekommen, die jemand anders aus Verärgerung verlassen hatte. Mein Leben könnte sogar besser werden.
Zum ersten Mal in vierundzwanzig verdammt langen Stunden fing ich an daran zu glauben, daß meine Karriere vielleicht doch nicht vorbei war.
Gegen Mittag kam Neil aus seinem Büro und trat zu meinem Schreibtisch. „Ich denke, sie sollten mit mir zu Mittag essen. Es gibt da einige Dinge, die wir zu besprechen haben. Ivanka kann die Anrufe entgegennehmen.“
Mittagessen mit Neil? Ich hatte eine Vision von mir, wie ich mein immernoch schlagenden Herz auf den Schreibtisch erbrach. 
Als ich aufstand fühlte ich mich etwas flau im Magen und meine Füße schienen in Bleiblöcken zu stecken.
Ich ging zu Schrank, um unsere Mäntel zu holen und reichte ihm seinen zuerst. Zu meiner Überraschung wollte er mir meinen Mantel aus der Hand nehmen.
„Das geht schon.“ sagte ich so freundlich ich konnte und schlüpfte hinein. Wir waren noch im Krieg, auch wenn ich mit der Arbeit Frieden geschlossen hatte.
Ich folgte ihm durch die Lobby, darauf achtend das ich ein paar Schritte hinter ihm ging, wie ich es auch bei Gabriella getan hatte.
Er bemerkte es noch bevor wir an den Aufzügen ankamen.
„Könnten sie bitte aufhören hinter mir zu laufen wie Marys kleines Lamm? Sie sind meine Assistentin, nicht meine Dienerin.“ Er klang ein wenig verärgert. Mit mir oder Gabriella? Oder mit uns beiden?
Obwohl wir auf dem Weg nach unten nur zweimal hielten, kam es mir wie die längste Aufzugfahrt meines Lebens vor. Ich stand neben ihm ohne etwas zu sagen und fixierte meine Augen auf die aufleuchtenden Zahlen über der Tür. Mein Blick sollte nicht einmal für eine Nanosekunde auf ihn fallen, denn ich war mir sicher er würde bemerken, wenn ich ihn ansah.
Plötzlich kam mir der Gedanke, daß sich Männer so fühlen mussten, wenn sie nebeneinander an Urinalen standen.
Wir gingen durch die Eingangsbereich und mir fiel auf, daß die Leute anhielten und starrten. Sie starrten nicht nach mir, sondern nach Neil und warum sollten sie auch nicht?
Das ganze Gebäude war voll mit Gesprächen über die Übernahme und die Menschen wollten unbedingt einen Blick auf den Mann erhaschen, der die gefürchtete, feuerspuckende Gabriella Winters abgelöst hatte.
Seine fest zusammengepressten Kiefer zeigten, daß er die Aufmerksamkeit auch bemerkt hatte.
Am Straßenrand wartete ein Wagen - ein schwarzgrauer Maybach 62 - und Neil öffnete die Tür für mich.
Ich biss meine Zähne zusammen. Als ich nach dem Türgriff fasste um die Tür selbst zu schließen, trat Neil schnell zurück und ging um den Wagen herum zur anderen Seite.
Eine Abtrennung grenzte die Vordersitze vom Hinterbereich ab. 
Neil stieg ein und teilte dem Fahrer über Interkom unser Fahrziel mit.
Ich war froh über die Mittelkonsole zwischen uns. 
Die physische Barriere war gut, beruhigend wie ein Podium bei einer öffentlichen Rede.
Als wir losfuhren machte ich in Gedanken eine Inventur des Wageninneren.
Es hatte einen eindeutig besseren Fernseher als der den ich benutzte und mehr echtes Holz als all meine Pressholzmöbel zusammen. 
Die Fahrt war abnormal leise, frei von den Aussengeräuschen und die unbehagliche Stille zwischen mir und Neil verschärfte sich.
Er schien genauso begeistert davon zu sein, mit mir in einem Wagen alleine zu sein, wie ich mit ihm. Gegen die Wagentür gelehnt sah er nach draussen und sein Mund bildete eine ernste Linie.
Als er endlich sprach, war seine Stimme sanft und schmerzerfüllt: „Ich erinnere mich an dich, Sophie.“
Die Worte stahlen den Atem aus meiner Lunge. Mein erster Instinkt war ihn mit einer schnippischen Bemerkung abzulenken, aber nun da es endlich offen zwischen uns stand war da kein Sinn im Wegrennen. „Gestern hast du das nicht getan.“
„Ich habe dich nie vergessen.“ Da war ein verblüffter Unterton in seiner Stimme. Als ob er nicht glauben könnte, daß ich dachte, daß er mich auch nur eine Sekunde aus seiner Erinnerung gelöscht hatte.
„Ich habe nur nicht erkannt, daß du das bist bis du gestern... Um Gottes Willen, die Sophie die ich kannte, war auf dem Weg nach Japan um dort Englisch zu lehren und sich selbst zu finden. Ich dachte nicht, das ich dich jemals wiedersehen würde.“
„Nicht gedacht, oder gehofft?“ Ich versuchte ein Lächeln um es als Witz abtun zu können, aber das Lächeln zerfiel, also sah ich aus dem Fenster. 
Es gab in dieser Stadt Millionen von Menschen, mit denen ich gerne den Platz getauscht hätte um diesem Augenblick zu entfliehen und doch...
Das hier hatte ich die letzten sechs Jahre gewollt. Selbst als ich, ausser mir vor Wut, versucht hatte mit seinem Geld ein neues Ticket nach Tokio zu kaufen, war ich wütender und verletzt von dem Fakt, das wir uns nie wiedersehen würden als durch die Art wie er gegangen war.
„Ich hätte dein Ticket nicht mitnehmen sollen.“ gab er zu. „Ich habe es getan, weil du so klug warst und doch so dumm handeln wolltest... aber es war nicht mein Recht, dich von einem Fehler abzuhalten. Wir kannten uns ja nicht wirklich.“
Ich lehnte mich in dem bequemen Ledersitz zurück. Er hatte sich entschuldigt. Immer hatte ich mir vorgestellt, daß er sich entschuldigen würde, aber nie das er mich dabei dumm nennen würde.
„Ich bin froh, daß du zur NYU gegangen bist.“
Als ich zu ihm hinübersah, war dieses gewichtige Gefühl zwischen uns wieder da. Es gab keinen Zweifel, daß er es auch fühlte. 
Ich nahm einen zittrigen Atemzug. „Bin ich auch. Dadurch bekam ich einen tollen Job. Werde ich ihn behalten?“
Er sah so aus, als ob er antworten wollte aber in diesem Moment hielt der Wagen an und der Fahrer informierte uns übers Interkom: „Wir sind da, Mister Elwood.“
Neil stieg aus und ließ mich diesmal meine Tür selbst öffnen. Ich gebe zu, davon war ich beeindruckt, aber es ist schwer irgendeine Form von Aufgeregtheit aufrecht zu erhalten, wenn der Job am seidenen Faden hängt. 
Das Restaurant das Neil ausgesucht hatte, war eine kleine Brasserie die trotz des Herbstwetters auch noch draussen im Aussenbereich Mittagessen servierte.
Die Gastgeberin lächelte als wir auf sie zu kamen und Neil erwähnte eine Reservierung.
„Diesmal kein Deckname?“ murmelte ich, als wir der Frau durch das fast leere Restaurant folgten.
Kein Wunder, daß er eine Reservierung brauchte. Dieser Laden ist überfüllt, dachte ich höhnisch und dann machte es mir Mut, daß er mich nicht an einen vollen und beliebten Ort mitgenommen hatte. Das wäre wie ein blinkendes Neonschild gewesen, daß er dabei war mich zu feuern.
Wir wurden quer durchs ganze Restaurant geführt, vorbei an Toiletten und der Küche, in einen kleinen privaten Speiseraum.
„Das hier war einmal ein Mafiaversteck.“ erzählte mir Neil heiter, während er der Gastgeberin seinen Mantel reichte.
Ich öffnete den Gürtel meines Mantels und während ich ihn aufknöpfte fragte ich die Frau: „Das ist nicht wahr, oder?“
Sie zuckte freundlich mit den Schultern und antwortete: „Zumindest erzählen es die Leute so.“
Neil zog einen Stuhl für mich zurück. Ich hob eine Augenbraue, da lächelte er entschuldigend und setzte sich auf seinen eigenen Stuhl.
„Mandy wird gleich bei ihnen sein.“ sagte die Gastgeberin und reichte uns die Speisekarte,  eine Seite blütenweißes Papier in einen Lederumschlag eingebunden mit einem schwarzen Band.
Wann immer ich in einem New Yorker Restaurant aß, musste ich unwillkürlich an die laminierten Speisekarten in den Restaurants meiner Heimatstadt denken und konnte fast meine Verwandten sagen hören, daß ich mich selbst für zu wichtig hielt.
„Mast du Ente?“ fragte Neil, von seiner Speisekarte aufsehend. „Die haben hier einen tollen Entenkonfit Salat.“
Ich hätte ihm genau sagen können, was er mit seiner Ente tun sollte. „Sind wir hier, weil du mich rausschmeisst?“
Diesmal sah er nicht auf. „Nein, ich würde dich nicht entlassen, nur weil wir in der Vergangenheit miteinander geschlafen haben. Ich bin in diesem Fall der Eindringling, du bist schon um einiges länger bei Porteras.“
Die Anspannung entwisch aus meinem ratternden Hirn. Ich schaute mir die mehrgängigen Menus an und versuchte mich in Stille zu entscheiden.
„Denkst du, du kannst weiter für Porteras arbeiten?“ fragte Neil beiläufig, als die Kellnerin für unsere Getränkebestellung kam.
Ich bin mir nie sicher, was ich bei Arbeitsessen trinken sollte, also blieb ich bei Kaffe und Wasser. Zu meiner Überraschung bestellte Neil sich dasselbe. Ich hatte gedacht, er würde sich eher einen teuren Wein bestellen.
Ich dachte über seine Frage nach. Es wäre verrückt für jemanden zu arbeiten, mit dem man einen heissen One Night Stand gehabt hatte. „Als deine Assistentin? Ich glaube nicht, daß ich das könnte.“
„Verstehe ich vollkommen.“ er legte die Speisekarte zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Finger spielten mit dem Stiel seines Wasserglases.
„Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht daß ich jemanden herum kommandieren könnte, mit dem ich eine sexuelle Beziehung habe. Eine vergangene sexuelle Beziehung in diesem Fall.“
Seine schnelle Berichtigung trieb mir eine heisse Röte ins Gesicht und er räusperte sich, als wir so dasaßen und voneinander wegsahen.
Die Kellnerin kam zu unserer Rettung, nahm meine Bestellung eines Salat mit gegrillten Calamari auf und seine von Moules Mariniéres, was er perfekt aussprach.
Er hätte auch einfach ,ich nehme die Muscheln‘ sagen können, dachte ich schneidend.
Was für einen Sinn hatte es, hier herum zu sitzen und mit ihm zu Mittag zu essen, wenn es mir doch nicht den Job retten konnte?
Mir wurde klar, das ich ihm gegenüber nicht ganz fair war. Er hatte sich für das Stehlen meines Flugtickets entschuldigt. Er tat ihm wirklich leid, daß er sich nicht an mich erinnert hatte. Und es war ja nicht so, daß er die Tatsache das unsere Karrierepfade aufeinander trafen. Wir waren hier beide in einer seltsamen Situation.
Nachdem die Kellnerin gegangen war, begann er von neuem. „Wie ich schon sagte, es wäre mir unangenehm, dich weiter als meine Assistentin zu beschäftigen. Das ist aber kein Grund, daß du das Magazin ganz verlassen solltest. Deine Mitarbeiter sprechen sehr gut über dich und deine Arbeitserfahrung. Würdest du in Erwägung ziehen die Position als assistierende Beauty Redakteurin anzunehmen?“
Ich konnte froh sein, daß er mich jetzt gefragt hatte. Denn hätte er mich gefragt, während wir schon aßen, hätte ich mich an Tintenfisch verschluckt. „Entschuldige bitte?“
„Das ist ein etwas größerer Karrieresprung, aber Gabriella hatte die auf Empfehlungsliste dafür gesetzt.“ Er nahm einen Schluck seines Kaffees. „Ich werde dich nicht bedrängen diese Entscheidung sofort zu treffen. Das ist nicht der Grund, warum ich dich zum Essen eingeladen habe.“
Gabriella hatte mich auf diese Liste gesetzt? Mit anderen Kandidaten? Was bedeutete, daß sie sich nicht einmal um die Sicherung meiner Arbeitsstelle gekümmert hatte, bevor sie gegangen war?
Ich versuchte hart meine Verärgerung zu maskieren. Immerhin hatte sie mich als Kandidatin für den Assistenzredakteurin empfohlen.
Das wäre eine große Beförderung für mich und ich könnte tatsächlich meinen Collegeabschluß benutzen. „Also, ich bin dankbar für die Bedenkzeit... aber wozu war dieses Essen dann gedacht, wenn nicht um die Arbeit zu diskutieren?“
Da war dieses Halblächeln wieder, wie ein Geist meiner privatesten Fantasien der still zwischen uns schwebte. „Um auf den neuesten Stand zu kommen. Es waren immerhin sechs Jahre.“
„Ah.“ Hmm, nachdem ich nicht meinen Flieger nach Tokio besteigen konnte, weil du mein Ticket mitgenommen hattest...
Ich würde das wirklich hinter mir lassen müssen, oder ich würde mir mein Leben verdammt schwer machen. Vor sechs Jahren hatte ich wirklich einige dumme Sachen gemacht, die ich besser nicht getan hätte. In weiteren sechs Jahren würde ich vermutlich dasselbe sagen können. Eindeutig betrachtete Neil das Wegnehmen meines Tickets als eine dumme Sache, die er nicht hätte tun sollen. Ich konnte es mir erlauben ein wenig versöhnlicher zu sein.
„Weißt du, wir kennen uns nicht wirklich.“ begann ich, nicht unfreundlich. Es war nur eine Tatsache die wir nicht ignorieren konnten und trotzdem miteinander arbeiten konnten. „Es gibt also keinen Grund warum deshalb merkwürdig fühlen sollten.“
„Ich glaube, das ist unausweichlich.“ lachte er und die Anspannung zwischen uns verschwand. Ich hatte vergessen das er zwar immer vorsichtig sprach und genau zu wissen schien was er sagen sollte, aber das er ohne den geringsten Hinweis auf Zurückhaltung lachte.
Die Fältchen in seinen Augenwinkel vertieften sich und sein breites Lächeln zeigte seine geraden, weißen Zähne.
Die Erleichterung dieses Moments überwältigte mich und ich lachte auch. Und wenn ich einmal anfing, konnte ich kaum wieder aufhören. Es fühlte sich gut an die Schutzwälle, die ich Angesichts meiner Angst aufgebaut hatte, herunterzulassen. 
Ich hatte erwartet entlassen zu werden und das würde nicht passieren, zumindest nicht heute. Das es zwischen mir und Neil seltsam werden würde, hatte ich mir gedacht. Und es war auch so. Aber das war nicht das Ende der Welt und ich war nicht die Einzige, die darunter litt. Das half eine Menge meine innere Unruhe zu besänftigen.
„Oh, Sophie.“ Er schüttelte den Kopf, sein Lächeln schwand nur wenig. „Ich habe oft an dich gedacht. Ich war so ein bedauernswerter Arsch.“
„Oder eher war Leif ein bedauernswerter Arsch,“ rügte ich und war etwas schockiert, das ich so spielerisch neckend war anstatt wirklich wütend.
„Zu meiner Verteidigung, Leif ist mein zweiter Vorname. Den hab ich mir nicht einfach ausgedacht.“ Seine grünen Augen trafen auf meine und ich fühlte diesmal nicht den unbehaglich Drang wegzusehen.
Er senkte seine Stimme: „Habe ich dein Leben versaut? Dadurch das ich das Ticket mitgenommen habe?“
Nein hatte er nicht. Er hatte es eher gerettet, aber das konnte ich ihm nicht erzählen. Es wäre zu sehr, als würde ich eine Entschuldigung für ihn suchen. „Ich hatte die Wahl. Du hattest genug Geld zurückgelassen. Ich hätte auf einen anderen Flug warten können und das tat ich nicht. Ich kaufte ein Ticket nach New York. Ich habe diese Entscheidung getroffen.“
„Und du bereust es nicht?“ fragte er vorsichtig. 
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich frage mich schon, was in meinem Leben anders geworden wäre, aber ich bin glücklich da wo ich bin.“
„Gut.“ er machte eine Pause. „Ich habe auch daran gedacht, wie die Dinge hätten anders laufen können.“
Meine Kehle verschloss sich fast durch die Beunruhigung die diese Worte in mir auslösten. Meinte er zwischen uns? Oder die Art wie wir uns trennten? Oder das es für ihn einfacher gewesen wäre, wenn ich ihn Japan wäre?
„Ich muss ehrlich sein.“
Ich hasste es, wenn Leute die Formulierung benutzten und Neil war da keine Ausnahme. Diese Worte ließen mich automatisch denken, das alles zuvor gesagt gelogen war und alles folgende danach zumindest verdächtig. Das war eine Schande, denn ich wollte wirklich glauben, was er als nächstes sagte.
„Ich habe oft bereut wie diese Sachen gelaufen sind. Und ich ich habe mich oft gefragt, was anders geworden wäre, wenn wir in Kontakt geblieben wären.“ Sein Mund zuckte und die melancholischen Linien auf seiner Stirn wurden tiefer.
„Auf dem Weg zum Flughafen ließ ich den Fahrer fast umkehren, um die abzuholen. Am Gate hoffte ich dann, daß du... ich weiß nicht, irgendwie auftauchen würdest. Oder das der Flug wieder verschoben werden würde. Fast wäre ich nicht in den Flieger gestiegen. Aber an dem Punkt wusste ich, das es zu spät war. Ich habe es in dem Moment versaut, in dem ich das Hotelzimmer verließ. Ich schwöre dir, wenn ich das noch einmal tun könnte, würde ich es anders machen.“
Es ist schon bizarr, wie ein freundlicher Gedanke einen genauso sehr verletzen kann wie ein grausamer. Das Herz zersprang mir in der Brust. Ja, ich hatte darüber nachgedacht, wie mein Leben geworden wäre, hätten wir damals das Flugzeug gemeinsam bestiegen. Vielleicht hätten wir uns in Tokio wiedergetroffen. Es hätte so ein Lost in translation Ding werden können und wir hätten glücklich bis an unser Lebensende werden können. Das er über einen solchen Ausgang genauso nachgedacht hatte wie ich, verletzte mich zutiefst.
Was absurd war, erinnerte ich mich selbst. Du kanntest ihn weniger als 24 Stunden. Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht. Obwohl ich tief drinnen wusste das ich ihm nachtrauerte und nicht irgendeiner großen Liebe, tat es trotzdem weh.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte er, Sorge verdunkelte seinen Blick.
Ich nickte und nahm einen Schluck Wasser um den Kloß in meinem Hals herunterzuspülen.
Das Glas auf den Tisch zurückstellend, sagte ich mit gezwungener Fröhlichkeit: „Ist es nicht seltsam, das wir uns jetzt wieder begegnen?“
Im selben Moment in dem ich die Worte aussprach wurde mir klar, das er mehr darin sehen lesen würde, als ob ich zugab an Fügung oder Schicksal zu glauben. 
Seine Augenbrauen hoben sich und er schaute nervös weg, als ob er nach einem Netz suchen würden, daß ihn umschlossen hatte. „Ja, also, im Moment kann ich mich auf dich nicht einlassen oder auf sonst irgendjemanden. Ich mache gerade eine hässliche Scheidung durch.“
„Ich meinte nicht -“ ich bremste mich selbst. Besser nach vorne stürmen, als etwas vergangenes zu erklären in dieser Art von Konversation. „Ich bin auch nicht an so etwas interessiert.“
„Oh?“ hörte ich da Enttäuschung in seiner Stimme? „Du bist schon mit jemandem zusammen?“
„Nein, ich bin mit niemandem zusammen.“ Mir gefiel der Gedanke, ihn darüber brüten zu lassen, aber das schien unehrlich und bis jetzt hatte uns Unehrlichkeit nicht wirklich einen Gefallen getan. „Die Wahrheit ist, ist habe nie jemanden gefunden der... meinen Erwartungen entspricht.“
Und dann, ich schwöre bei Gott, kicherte Neil. Neil Elwood - Milliardär, Unternehmer und Verleger - kicherte und es war der bezauberndste, Teenager- artigste Klang den ich je von einem über 20jährigen gehört hatte. Und einfach so war ich absolut in ihn verliebt.
Ich könnte entweder täglich in seiner Nähe arbeiten und mich dabei in den Wahnsinn treiben, oder ich könnte mit dieser Aufrichtigkeit fortfahren und von der verrücktesten Klippe springen, auf der ich je gestanden hatte.
„Pass auf, das klingt jetzt... Ich möchte nichts ernstes. Du auch nicht. Aber wir fühlen uns offensichtlich zueinander hingezogen und jetzt sind wir in dieser Situation. Es würde also niemandem weh tun, wenn wir uns ganz zwanglos treffen.“
Ich schwöre, für eine Sekunde war ich ausserhalb meines Körpers. Ich sah auf die Szene herab mit einer fast zerquetschenden Selbsterkenntnis, die ich hoffe nie wieder erleben zu müssen. Was tat ich da?
Ich hatte gerade meinem Vorgesetzten ein Angebot gemacht.
Ich erinnerte mich, wie ich vor sechs Jahren in diesem Taxi gesessen hatte, seine Hand auf meinem Oberschenkel, seine leise Stimme an meinem Ohr: „Alles was du willst.“
Und dann war ich wieder im hier und jetzt, starrte in Neils wunderschöne grüne Augen und  versuchte zu raten, was er dachte.
„Sophie, ich bin dein Boss.“ Mein Herz sank, aber er fuhr fort: „Wir würden im Büro sehr vorsichtig und diskret sein müssen.“
„Absolut. Ich habe zu hart dafür gearbeitet umd dahin zu kommen, wo ich jetzt bin.“ Ich runzelte die Stirn. „Du denkst doch nicht, das ich etwas unüberlegtes tun würde und damit die Aufmerksamkeit auf uns lenken würde. Ich bin doch nicht blöd.“
Er sah kurz verwirrt aus und sagte dann: „Du hast recht. Ich zolle dir nicht genug Anerkennung. Ich schätze, ich sehe in dir noch immer das impulsive junge Mädchen vom Flughafen. Du warst fünfundzwanzig damals, oder?“
Oh, ja...
Ich räusperte mich. „Also dazu... es könnte sein, daß ich damals bezüglich meines Alters etwas geschummelt habe.“
Seine Augen verengten sich. „Du hast geschummelt?“
„Ja. Ich war nicht auf dem Weg zur Uni als Absolventin.“ Er würde wütend werden. Wirklich, wirklich wütend. „Ich war nicht 25, sondern 18.“
„Achtzehn. Wirklich?“ Sein normalerweise ruhiger Ton war unnatürlich und fahrig, seiner Stimme etwas höher als zuvor. „Also bist du jetzt vierundzwanzig -“
„Vierundzwanzig“ sagte ich zur selben Zeit wie er. „Das ist doch kein Problem. Oder doch?“
Neil war 42 gewesen, als wir uns getroffen hatten. Er war wegen unseres Altersunterschiedes etwas besorgt gewesen und damals hatte er gedacht, das der Unterschied weniger als 20 Jahre wäre.
Er machte ein paar unartikulierte Laute, als hätte er Probleme den Satz zu beginnen, dann stoppte er und sammelte sich. „Es ist schon ein kleines Problem.“
„Ah“ Wie schnell würde unser Essen kommen? Wie schnell würde ich es herunterschlingen können und hier verschwinden?
„Es ist so...“ er lachte kurz ungläubig auf. „Du bist so alt wie meiner Tochter.“

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